Presseecho: „Weg mit der Schon-Haltung!“ – ein Essay von Caspar Schmitz-Morkramer zum Nachhaltigen Bauen
Der Architekt Caspar Schmitz-Morkramer denkt nach: Über seine persönliche Haltung und die der Architektenschaft zum Nachhaltigen Bauen. Wie können wir eine belastbare Haltung entwickeln, wenn alle das Gleiche sagen und man doch an jeder Ecke auf Widersprüche stößt?
Neulich saß ich auf Einladung des Vereins zur Förderung von Architektur, Engineering und Design (AED) im Stuttgarter Literaturhaus auf einem Podium mit Werner Sobek und Detlef Kurth, der in Kaiserslautern den Lehrstuhl für Stadtplanung innehat. Sobeks Buch „non nobis“ macht uns darauf aufmerksam, dass die Baubranche – also wir – nicht mit 40 Prozent Anteil an allen globalen CO2-Emissionen das größte Klimaschwein ist. Wir sind es mit über 50 Prozent. An dem Abend in Stuttgart schlug Sobek vor, im Sinne einer Volksaufklärung eine Art Neuauflage von „Der 7. Sinn“, der Mutter aller Verkehrserziehungssendungen, für Klima- und Nachhaltigkeitswissen zu entwickeln und vor der Tagesschau laufen zu lassen. Gefällt mir, ich bin dabei. Detlef Kurth verglich die Lage völlig zu Recht mit einer pandemischen und brachte den Begriff „CO2-Inzidenz“ ins Spiel. Beide Personen stehen beispielhaft für ein konsequentes Denken jenseits des allgemeinen Nachhaltigkeitsgelabers.
Woher kommt das Phrasendreschen eigentlich? Warum liest man seit Jahren überall dieselben Schöne-neue-Welt-Phrasen, ohne dass wirklich etwas Substanzielles geschieht? Komisch eigentlich, dass wir überhaupt ein Klimaproblem haben, so nachhaltig, wie wir offenbar schon seit Langem bauen. Woher stammt die Diskrepanz zwischen Wort und Tat? Sie liegt zum Beispiel daran, dass man sich als Architekt:in heute zur Nachhaltigkeit zu bekennen und eine „Haltung“ zu haben hat. Die Gesellschaft fragt, die Kinder fragen, die Bauherr:innen fragen. Und das Gewissen auch. Gut so. Druck fordert, Druck formt.
Andererseits wollen und sollten wir alle individuell sein. Es gilt also eine Balance zwischen persönlicher Haltung und Notwendigkeiten zu finden: Der Druck muss uns aktivieren, nicht passiv werden lassen. Ich will – sowohl im architektonischen Handeln als auch im individuellen Auftreten – freies Formen, keine auferlegten Normen.
„Ist eine Aussage wie ‚Ich bin für Nachhaltiges Bauen‘ eine Haltung?“
Caspar Schmitz-Morkramer
Als ob es überhaupt verschiedene Haltungen zum Nachhaltigen Bauen geben könnte. Weniger Emission, weniger Verbrauch, weniger Müll. Ist doch klar. Simpel. Alternativlos. Natürlich. Ist aber eine Aussage wie „Ich bin für Nachhaltiges Bauen“ eine Haltung? Natürlich nicht. Eine Haltung zur Nachhaltigkeit hat nichts mit dem Ob zu tun, sondern nur mit Dringlichkeit und Konsequenz, nur mit dem Wie und dem Was.
Das Wie und das Was laufen auf dasselbe hinaus: Die Frage danach, was Nachhaltiges Bauen sei (Sie sehen schon, ich schreibe das jetzt immer groß …), ist die Frage danach, wie man nachhaltig baue. Und jetzt geht es los. Wir müssen mit Holz bauen, sagt die eine, weil Holz CO2 bindet und ein erneuerbares Material ist. Nein, müssen wir nicht, sagt der andere, jedenfalls nicht pauschal, weil es zu lange dauert, bis das Holz nachwächst, um als neue CO2-Senke beziehungsweise neues Baumaterial zur Verfügung zu stehen. Es gibt auch in toto zu wenig für den globalen Bedarf. Es muss transportiert werden, es muss getrocknet und behandelt werden.
Ein Hauptziel muss sein, den Bestand zu nutzen, Abriss zu vermeiden und grundsätzlich auf Dauerhaftigkeit zu setzen, sagen viele, gerade vor Kurzem im Rahmen des Abrissmoratoriums. Viele andere sagen: Ja, schon, aber grundsätzlich muss das Ziel doch eine ephemere Architektur sein, die man klimaverträglich aufbauen, aber gegebenenfalls auch wieder – aus welchen Gründen auch immer – klimaverträglich abbauen kann. Man muss nicht für die Ewigkeit bauen. Wenn Nachhaltigkeit bedeutet, auf nachfolgende Generationen Rücksicht zu nehmen, können wir diese nicht vor vollendete Tatsachen stellen, oder besser: die vollendeten Tatsachen nicht vor sie. Es sei denn, die Tatsachen wären ohne CO2-Opfer reversibel.
„Ich weiß, dass ich, dass die allermeisten von uns, nicht konsequent genug sind, und ich weiß außerdem, dass ich mich für diese Konsequenz (noch) nicht gerüstet fühle.“
Caspar Schmitz-Morkramer
Sagen Sie mir bitte, wer hat recht? Wichtiger: Woher wissen Sie, wer recht hat? Ich selbst weiß es, ehrlich gesagt, nicht genau. Was ich weiß ist, dass ich mit meiner Unsicherheit nicht alleine bin. Sonst hätte ich womöglich auch nicht den Mut, mich zu ihr zu bekennen.
Druck formt. Gut so. Aber Druck kann auch zu Gleichförmigkeit führen. All die Statements zur Nachhaltigkeit und der besseren Zukunft, die man auf unseren Websites oder in unseren Projektbeschreibungen findet (oder manchmal auch gar nicht findet, was womöglich noch schlimmer ist): Sie klingen, als wüssten wir Bescheid; als würden das „Grün“, das „Miteinander“, der „Dialog“, die „Inklusion“, die „Verantwortung“ und so weiter die Sache schon richten, sofern wir sie oft genug beschwören. Wie schön die Dächer in unseren Entwürfen blühen! Wie wir die „Aufenthaltsqualität“ steigern oder das „Mikroklima“!
Ich weiß, dass das alles richtig ist, aber ich fühle es nicht mehr, weil ich weiß, dass so etwas da eben stehen muss. Weil es so furchtbar beliebig und auswendig gelernt klingt. Was Konsequenz suggerieren soll, ist ein Fest der Austauschbarkeit. Dabei sind deutsche Architekturbüros doch so unterschiedlich und vielfältig. So wie das Thema der Nachhaltigkeit selbst. Müsste eine Haltung nicht also erst einmal – egal, mit wie vielen ich sie am Ende teile – etwas Individuelles sein?
Haltung und Körperform
Vielleicht bringt uns die Biologie weiter. Konvergenz als biologischer Terminus meint grob gesagt, dass Lebewesen, die unter ähnlichem Anpassungsdruck stehen und ähnliche Funktionen brauchen, auch ähnliche, bisweilen identische Körperformen ausbilden, wobei „die bloße Ähnlichkeit eines Merkmals noch keinen Rückschluss auf Verwandtschaft erlaubt“ (Wikipedia). Hai und Delfin haben eine ähnliche Silhouette, aber keine stammesgeschichtliche Gemeinsamkeit. Aus genetischer Sicht sind sie völlig verschieden, aber aus der Distanz sehen sie fast gleich aus. Erst aus der Nähe erkennt man, dass der eine viel hässlichere Zähne hat.
Was Haltung mit Körperform beziehungsweise -verformung zu tun hat? Alles. Immerhin sprechen wir über eine quasiorthopädische Metapher, die für unsere Gesinnung, genau, „steht“. Steh gerade, Kind! Also erhobenen Hauptes! Sei aufrecht! Buckel vor niemandem und hab Rückgrat! Hast du keins, wirst du dich immer verbiegen und immer anders zu den Dingen stehen müssen.
Natürlich habe ich eine „Haltung“. Natürlich möchte ich – als Privatmann im Namen meiner Kinder und meiner Familie, als Geschäftsmann im Namen meiner Angestellten – nachhaltig leben und entwerfen. Aber, Sie erinnern sich, das ist keine Haltung, sondern eine Selbstverständlichkeit.
„Ich habe keine Haltung mehr, weil ich nicht länger glaube, mir eine erlauben zu können.“
Caspar Schmitz-Morkramer
So gesehen gehen wir alle aufrecht, und zwar in eine Zukunft, die wir, die Privilegierten, versauen – sehenden Auges, seit Jahrzehnten, schön stromlinienförmig. Wir kommen aus einer schuldhaften Vergangenheit, die die Zukunft verformt: Im weltweiten Vergleich hat Deutschland bis 2017 insgesamt und kumulativ fast zweimal so viel CO2 ausgestoßen wie ganz Afrika. Oder ganz Südamerika. Mit anderen Worten: Wir sind zwei Kontinente. Zu sagen, wir müssten „CO2-Reparationen“ zahlen, mag hart ausgedrückt sein. Wir wissen aber, dass der vollständige Abbau von CO2 in der Atmosphäre laut Umweltbundesamt „mehrere Hunderttausend Jahre“ dauert. Im Angesicht der Zahlen und ihrer Konsequenzen für diejenigen, die das Pech haben, nicht in der sogenannten Ersten Welt zu wohnen, sind Reparationen angemessen. Denn wir wissen auch, dass jene Konsequenzen durchaus mit den Folgen eines Kriegs verglichen werden können.
Ich kann nicht für die deutschen Architekt:innen sprechen. Noch kann ich leugnen, dass mein Gebrauch von Worten wie „gleichförmig“ oder „stromlinienförmig“ insofern unfair ist, als er Feigheit oder Duckmäusertum assoziieren lässt. Wenn alle – mich eingeschlossen! – mehr oder weniger dasselbe sagen, heißt das nicht notwendigerweise, dass das falsch ist. Konvergenz ist zwingend und plausibel. Konvergenz ist gut! Der Blauhai ist der siebtschnellste Fisch im Meer. Offenbar funktioniert seine Form, und form follows function.
Rasender Stillstand
Aber ich hätte kein Rückgrat, wenn ich so täte, als hätte ich wirklich eine belastbare Nachhaltigkeitshaltung. Ich weiß, dass ich, dass die allermeisten von uns, nicht konsequent genug sind, und ich weiß außerdem, dass ich mich für diese Konsequenz (noch) nicht gerüstet fühle. Wir alle, so zertifiziert wir auch sein mögen, wissen das. Wir haben keine Zeit mehr. Die meisten von uns haben den Schuss schon vor langer Zeit gehört, vielleicht vor zu langer Zeit. Was wir seit Jahren hören, ist, so glaube ich, nicht mehr der Schuss, sondern sein Nachhall. Ist es möglich, dass wir beides inzwischen verwechseln? Ich jedenfalls habe das Gefühl, in einer selbstbeschwichtigenden Echo-Kammer zu sein, in der mein Nachhaltigkeitswissen – trotz oder wegen der steten Flut an neuen Kenntnissen über Techniken und Material – eher ab- als zuzunehmen scheint. Das Gefühl eines rasenden Stillstands.
Ich habe keine Haltung mehr, weil ich nicht länger glaube, mir eine erlauben zu können. Was ich habe – und damit bin ich sicher nicht allein – ist eine Schon-Haltung. Für mich gilt es, der „Haltung“ ebenso wie der „Nachhaltigkeit“ ihre Anführungszeichen zu nehmen. Statt mich selbst und andere zu zitieren, muss ich für meine Mitarbeiter:innen – vor allem: mit ihnen! – eine neue Haltung finden. Als ich während der letzten Monate den Schuss noch mal und wieder und wieder hörte, wurde mir klar, dass ich erst die Voraussetzungen für eine Haltung schaffen muss. Das heißt: mich auf die Suche begeben. Wer mich heute nach meiner Haltung fragt, dem kann ich nur sagen: Meine Haltung zur Nachhaltigkeit besteht einstweilen darin, eine Haltung zur Nachhaltigkeit zu entwickeln.
Der Artikel erschien erstmals am 8. November 2022 auf competitionline.com.
Quellen Grafiken: outworldindata.org; Global Carbon Atlas, Country emissions 2020; WRI 2020; International Energy Agency 2020; UN Environment Programme: 2020 Global Status Report for Buildings and Construction; Bundesamt für Bau-, Stadt- und Raumforschung: Umweltfußabdruck von Gebäuden in Deutschland, BBSR-Online-Publikation Nr. 17/2020; Christine Barnthäler: Radikal und relativ, Interview mit Werner Sobek, in: Handwerk + Bau, 28.9.2020; Umweltbundesamt: Energiesparende Gebäude, 29.5.2020; Foster + Partners: Sustainability Manifesto; Kernergebnisse aus dem 5. Sachstandsbericht des IPCC, Institute for Sustainability Leadership (CISL) der Universität Cambridge; University of Cambridge/Cambridge Institute for Sustainability Leadership: IPCC Climate Science Business Briefings; Statistisches Bundesamt; UBA-Studie Energieaufwand für Gebäudekonzepte im gesamten Lebenszyklus; energie-experten.org, basierend auf: Josef Zimmermann, Maximilian Reiser, “Forecasting gray energy consumption over the lifetime of buildings” (2020)