von Caspar Schmitz-Morkramer
Als Architekt:in hat man sich heute zur Nachhaltigkeit zu bekennen und eine „Haltung“ zu haben. Die Gesellschaft fragt, die Kinder fragen, die Bauherr:innen fragen. Und das Gewissen auch. Gut so. Druck formt.
Aber Druck kann auch zur Gleichförmigkeit führen. All die Statements zur Nachhaltigkeit und der besseren Zukunft, die man auf unseren Websites findet – und allzu oft nicht findet: Sie klingen, als wüssten wir voll Bescheid; als würden das „Grün“, das „Miteinander“, der „Dialog“, die „Inklusion“, die „Verantwortung“ usw. die Sache schon richten, sofern wir sie oft genug beschwören. Wie schön die Dächer in unseren Entwürfen blühen, wie wir die „Aufenthaltsqualität“ steigern oder das „Mikroklima“, alles vollflexibel optimieren und Autos in der Stadt blöd finden – ich weiß, dass das alles richtig ist, aber ich fühle es nicht mehr, weil ich weiß, dass sowas da eben stehen muss. Weil es so furchtbar austauschbar, beliebig und auswendig gelernt klingt. Dabei sind deutsche Architekturbüros doch so unterschiedlich und vielfältig. So wie das Thema der Nachhaltigkeit selbst. Müsste eine Haltung nicht also erst einmal – egal, mit wie vielen ich sie am Ende teile – etwas Individuelles sein?
Konvergenz, als biologischer Terminus, meint, grob gesagt, dass Lebewesen bei ähnlichen Umwelteinflüssen und Funktionen ähnliche, bisweilen identische Körperformen ausbilden, wobei „die bloße Ähnlichkeit eines Merkmals noch keinen Rückschluss auf Verwandtschaft erlaubt“ (Wikipedia). Hai und Delfin haben eine ähnliche Silhouette, aber keine stammesgeschichtliche Gemeinsamkeit. Aus genetischer Sicht sind sie völlig verschieden, aber aus der Distanz sehen sie fast gleich aus. Erst aus der Nähe erkennt man, dass der eine viel hässlichere Zähne hat.
Was Haltung mit Körperform beziehungsweise -verformung zu tun hat? Alles. Immerhin sprechen wir über eine quasi-orthopädische Metapher, die für unsere Gesinnung, genau, „steht“. Steh gerade, Kind! Also erhobenen Hauptes! Sei aufrecht! Buckel vor niemandem und hab‘ Rückgrat! Hast du keins, wirst du dich immer verbiegen und immer anders zu den Dingen stehen müssen.
Natürlich habe ich eine „Haltung“. Und wenn ich „ich“ sage, meine ich auch und vor allem: wir. Unser Büro. Die Mitarbeiter:innen, ohne die es das „Ich“, das sich anmaßt, hier stellvertretend für sie zu sprechen, nicht gäbe. Und es ist natürlich eine Anmaßung. Denn eine Haltung kann, erst einmal, nur etwas Persönliches sein. Natürlich möchte ich – als Privatmann im Namen meiner Kinder und meiner Familie, als Geschäftsmann im Namen meiner Angestellten – nachhaltig leben und entwerfen. Nur: Wer will das nicht? Wir alle gehen aufrecht.
Wir alle gehen aufrecht in eine Zukunft, die wir, die Privilegierten, versauen – sehenden Auges, seit Jahrzehnten, schön stromlinienförmig. Wir kommen aus einer schuldhaften Vergangenheit, die die Zukunft verformt: Im weltweiten Vergleich hat Deutschland bis 2017 insgesamt und kumulativ fast zweimal so viel CO2 ausgestoßen wie ganz Afrika. Oder ganz Südamerika. Mit anderen Worten: Deutschland hat so viel verbraucht wie zwei Kontinente. Und fast halb so viel wie ganz China. Akzeptieren wir die weithin genannte Zahl von 40 Prozent Anteil des Bausektors an globalen CO2-Emissionen, können wir sagen: Im Laufe der Geschichte hat allein Deutschlands Bauwesen ungefähr so viel wie ganz Afrika insgesamt verbraucht.
Sicher, das Blatt hat sich, nun ja, „gewendet“: Bezogen auf das Jahr 2018 ist der Anteil Deutschlands an den globalen CO2-Emissionen schließlich nur noch halb so hoch wie der von Afrika, das im Vergleich zu Deutschlands 83 Millionen aber auch nur läppische 1,3 Milliarden Einwohner hat. China holt rasant auf und setzte 2020 ungefähr sechzehnmal so viel CO2 frei wie Deutschland. Doch das „Argument“, dass unser „winziges“ Land im Vergleich zu Riesen wie China oder Indien global gesehen ohnehin keinen Unterschied machen könne, ist falsch, vor allem historisch falsch: CO2-Ausstoß kumulativ, 1750–2017: Indien 3 %, Deutschland 5,73%. 2018: Indien 7,12%, Deutschland 1,93%. Einwohner Indien: knapp 1,4 Milliarden.
Zu sagen, wir müssten eigentlich „CO2-Reparationen“ zahlen, mag hart ausgedrückt sein. Aber im Angesicht der Zahlen und ihrer Konsequenzen für diejenigen, die das Pech haben, nicht in der sogenannten Ersten Welt zu wohnen, ist es vor allem angemessen ausgedrückt. Denn wir wissen, dass jene Konsequenzen durchaus mit den Folgen eines Kriegs verglichen werden können.
„Wir“ – das ist Deutschland, sicher. Aber „wir“, das sind eben auch und in erster Linie: wir, die wir bauen und bauen lassen; also wir Architekt:innen, wir Bauwirtschaftler:innen, wir Gebäudemacher:innen. „Wir“ sind leider die Schlimmsten. Wir sind für mindestens 40 Prozent aller CO2-Emissionen auf diesem Planeten verantwortlich, aber mit großer Wahrscheinlichkeit sind es mehr. Tatsächlich gibt es, was diese zentrale Zahl betrifft, eine geradezu babylonische und bisweilen unfreiwillig komische Sprachverwirrung.
Ich kann nicht für die deutschen Architekt:innen sprechen. Noch kann ich leugnen, dass mein Gebrauch von Worten wie „gleichförmig“ oder „stromlinienförmig“ insofern unfair ist, als er Feigheit oder Duckmäusertum assoziieren lässt. Wenn alle – mich eingeschlossen! – mehr oder weniger dasselbe sagen, heißt das ja nicht, dass das falsch ist. Konvergenz ist zwingend und plausibel. Konvergenz ist gut! Der Blauhai ist der siebtschnellste Fisch im Meer. Offenbar funktioniert seine Form, und form follows function.
Aber ich hätte kein Rückgrat, wenn ich so täte, als hätte ich wirklich eine belastbare Nachhaltigkeitshaltung. Ich weiß, dass ich, dass die allermeisten von uns, nicht konsequent genug sind, und ich weiß außerdem, dass ich mich für diese Konsequenz (noch) nicht gerüstet fühle. Wir alle, so zertifiziert wir auch sein mögen, wissen das. Wir haben keine Zeit mehr. Die meisten von uns haben den Schuss schon vor langer Zeit gehört, vielleicht vor zu langer Zeit. Was wir seit Jahren hören, ist, glaube ich, nicht mehr der Schuss, sondern sein Nachhall. Ist es möglich, dass wir beides inzwischen verwechseln? Ich jedenfalls habe das Gefühl, in einer selbstbeschwichtigenden Echo-Kammer zu sein, in der mein Nachhaltigkeitswissen – trotz oder wegen der steten Flut an neuen Kenntnissen über Techniken und Material – eher ab- als zuzunehmen scheint. Das Gefühl eines rasenden Stillstands.
Ich habe keine Haltung mehr, weil ich nicht länger glaube, mir eine erlauben zu können. Was ich habe – und damit bin ich sicher nicht allein – ist eine Schon-Haltung. Für mich gilt es, der „Haltung“ ebenso wie der „Nachhaltigkeit“ ihre Anführungszeichen zu nehmen. Statt mich selbst und andere zu zitieren, muss ich für meine Mitarbeiter:innen – vor allem: mit ihnen! – eine neue Haltung finden. Als ich während der letzten Monate den Schuss nochmal und wieder und wieder hörte, wurde mir klar, dass ich erst die Voraussetzungen dafür schaffen muss. Das heißt: die Suche vorbereiten. Diese Suche und die Voraussetzungen dafür dokumentieren, begleiten und unterstützen wir mit unserer Publikationsreihe Der Nachhalt.
Wer mich heute nach meiner Haltung fragt, dem kann ich nur sagen: Meine Haltung zur Nachhaltigkeit besteht einstweilen darin, eine Haltung zur Nachhaltigkeit zu entwickeln, und am Beginn dieser Entwicklung steht der Prolog.